Kommentar zum Auftakt der Polen-Rundfahrt

Dieser Sturz war eine Katastrophe

Von Wolfgang Brylla

Foto zu dem Text "Dieser Sturz war eine Katastrophe"
Der Sturz im Finale der 1. Etappe der Polen-Rundfahrt | Foto: Cor Vos

06.08.2020  |  (rsn) - Zunächst die gute Nachricht: Den Gesundheitszustand von Fabio Jakobsen, der kurz vor der Ziellinie der gestrigen Etappe der Polen-Rundfahrt im oberschlesischen Katowice stürzte, bezeichnen die Ärzte des Krankenhauses in Sosnowiec als “stabil“. Dorthin wurde der Niederländer mit einem Krankenwagen eingeliefert, nachdem sich die Sanitäter wegen massiver Kopfverletzungen gegen einen Transport mit dem Rettungshubschrauber entschieden hatten. Man kann von Glück sprechen, dass Jakobsen noch am Leben ist. Denn das gestern war kein normaler Radsport-Crash, wie man ihn oft beobachten kann. Es war eine Katastrophe.

Der 23-Jährige vom Team Deceuninck – Quick-Step hat eine erste, fünf Stunden lange OP hinter sich. Seine Brust wurde bei dem Unfall zerquetscht, aufgrund eines gebrochenen Gaumens konnten ihn die Ersthelfer vor Ort nur schwer intubieren. Jakobsen wurde ins künstliche Koma versetzt, eine CT-Untersuchung schloss folgenschwere Hirnschäden aus, aber bestätigte zahlreiche Knochenfrakturen im Gesicht. Die blutgetränkten Rennhandschuhe, von einem seiner Mannschaftskollegen gepostet, der als erster zu Hilfe eilte, gingen viral schon um die Welt.

Wer ist schuld an dieser Karambolage? Dylan Groenewegen (Jumbo - Visma) ist für seine Endschnelligkeit und Dynamik bekannt, aber schon mehrmals zog der 27-Jährige Kritik auf sich: Er habe seine Linie verlassen, einem seiner Kontrahenten auf der Zielgeraden die Tür zugemacht, das ein oder andere Mal sollen auch die Ellbogen zum Einsatz gekommen sein. Groenewegen ist kein Heiliger, ebenso wie viele andere Sprinter, die bei den Massenankünften alles für den Sieg geben.

Keine Frage: Groenewegen ist hauptverantwortlich nicht nur für Jakobsens Horrorsturz, sondern auch für die daraus resultierenden weiteren Stürze, die sich im Zielbereich ereigneten. Der Knall, als Jakobsen in die Absperrgitter knallte, war gigantisch, die Wucht unbeschreiblich. Die Absicherungen flogen durch die Luft, fielen auf den Boden oder auf die sich im freien Fall befindenden Rennfahrer. Ein Drama. Man möchte kaum daran denken, was passiert wäre, wenn hinter dem Metallspalier sich wie in einem normalen Rennen Zuschauer befunden hätten. Aufgrund der Corona-Auflagen und der Social Distancing-Regel mussten sich die Fans allerdings weiter nach hinten begeben.

Die Frage sei erlaubt: Waren die Streckengitter korrekt angebracht, war die Umzäunung fachmännisch befestigt? Czeslaw Lang, seit Mitte der 1990er Jahre Renndirektor des einzigen polnischen WorldTour-Events, wurde noch gestern wegen des Sicherheitskonzeptes scharf kritisiert. Die Vorwürfe wies Lang mit Vehemenz von sich: “Es war ein Sprinterfinale, die Fahrer hatten viel Platz. Es stimmt, sie fuhren ziemlich schnell, aber bei solchen Ankünften fährt man halt so. Wenn sie nicht bergab, sondern bergauf unterwegs gewesen wären und es zu einem ähnlichen Unfall gekommen wäre, wären sie ebenfalls in die Absperrungen hineingefahren. Unfälle, schreckliche Unfälle, gab es im Radsport und wird es geben“, sagte Lang im Gespräch mit sportowefakty.wp.pl.

Allerdings sieht die Wirklichkeit ein wenig anders aus. Die Katowice-Etappe der Tour de Pologne ist berühmt-berüchtigt. Seit Jahren schon müssen die Fahrer mehrere Male eine Stadtschleife in Angriff nehmen, bevor sie sich nach einer 90-Grad-Rechtskurve und der Überwindung einer Gleisbahn in einen langen, leicht bergab führenden Sprint stürzen, links und rechts umgeben von der gelben Gitterabsicherung. An sich wäre das vielleicht kein Problem, aber gepaart mit dem rasanten Tempo (80 Km/h) und der engen Straße bilden sie eine ernstzunehmende Gefahr, die keiner richtig wahrnehmen wollte. Bis zu diesem Jahr ging es immer glimpflich aus im “Sprinttempel“. Bis es eben gestern Jakobsen so schrecklich erwischte.

Wer die Verantwortung für dieses Radsport-Drama trägt, kann man zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Die Polizei nahm vor Ort die Ermittlungen auf, Groenewegen wurde disqualifiziert. Es wird sich zeigen, ob jemand zur Verantwortung gezogen wird. Allerdings müssen sich die Rennveranstalter wie der Radsportweltverband UCI, der Jahr für Jahr Grünes Licht für Katowice gab und keine Vorbehalte äußerte, und die Fahrergewerkschaft CPA an ihre eigene Nase fassen und sich fragen, ob sie sich in Sachen Sicherheit wirklich ins Zeug legen. Man spricht zwar viel davon, aber schon eines der ersten Nach-Corona-Rennen in Slowenien endete für einige Fahrer an einem Straßenpfosten. Redet man nicht miteinander, wird bei der Umsetzung des Sicherheitskonzepts ein Auge zugedrückt? Dem muss nachgegangen werden, damit sich solche Szenen wie gestern nicht wiederholen.

Und die Profis selbst müssen darüber nachdenken, ob ihr möglicher Sieg wahrlich mit der Gesundheit anderer erkauft werden muss. Dass es vor der heutigen 2. Etappe es zu keinem symbolischen Fahrerprotest kam, ist auch irgendwie bezeichnend und traurig.

Mehr Informationen zu diesem Thema

24.01.2024Groenewegen dachte nach Jakobsen-Crash an Rücktritt

(rsn) – Nach dem von ihm verursachten Horrorsturz seines Landsmanns Fabio Jakobsen zum Auftakt der Polen-Rundfahrt 2020 dachte Dylan Groenewegen an Rücktritt. Das erklärte der Niederländer im Ges

17.06.2021Jakobsen hat Zähne zurück und bestätigt Vuelta als Saisonziel

(rsn) – Fabio Jakobsen hat mit einem Vorher-Nachher-Bild auf Instagram freudestrahlend gezeigt, dass das Implantieren seiner neuen Zähne abgeschlossen ist – und gleichzeitig im selben Post auch b

29.01.2021Bugno verurteilt die Drohungen gegen Groenewegen

(rsn) - Gianni Bugno, Präsident der Fahrervereinigung CPA, hat die Hassbotschaften gegen Dylan Groenewegen (Jumbo - Visma) scharf verurteilt. Der Italiener nannte sie in einer Pressemitteilung "unsta

26.01.2021Groenewegen brauchte nach Jakobsen-Unglück Polizeischutz

(rsn) - Dylan Groenewegen (Jumbo - Visma) musste sich einige Wochen nach dem von ihm verursachten schweren Unfall von Fabio Jakobsen (Deceuninck - Quick-Step) bei der Polen-Rundfahrt im August Schutz

13.01.2021Jakobsen ist in Calpe mit den Teamkollegen unterwegs

(rsn) - Fünf Monate nach seinem verheerenden Sturz zum Auftakt der Polen-Rundfahrt bereitet sich Fabio Jakobsen mit seinen Teamkollegen von Deceuninck - Quick-Step im spanischen Calpe auf die Saison

10.01.2021Tour de Pologne ist in Polen das Sportereignis des Jahres

(rsn) - Die Tour de Pologne ist an diesem Wochenende bei einer Sportgala in Polen zum Sportereignis des Jahres gekürt worden - und das, obwohl die Organisatoren der Rundfahrt nach dem schlimmen Sturz

14.12.2020Katowice auch 2021 im Etappenplan der Polen-Rundfahrt

(rsn) - Katowice wird auch in der nächsten Saison Etappenort der Tour de Pologne. Ob das allerdings auch für die umstrittene Zielankunft gilt, bei der auf abfallender Strecke in diesem Jahr Fabio Ja

13.11.2020Jakobsen verklagt Groenewegen in den Niederlanden

(rsn) - Laut der belgischen Zeitung Het Laatste Nieuws wird Fabio Jakobsen (Deceuninck – Quick-Step) seinen Landsmann Dylan Groenewegen (Jumbo – Visma) wegen des von diesem im Finale der 1. Etappe

11.11.2020UCI sperrt Groenewegen bis zum 7. Mai 2021

(rsn) - Der Radsportweltverband UCI hat den Niederländer Dylan Groenewegen (Jumbo - Visma) als Verursacher des schweren Sturzes von Fabio Jakobsen (Deceuninck - Quick-Step) am 5. August zum Auftakt d

03.11.2020Medien: Groenewegen soll bis zum 6. Mai gesperrt werden

(rsn) - Dylan Groenewegen (Jumbo - Visma) soll vom Radsportweltverband UCI wohl für insgesamt neun Monate bis zum 6. Mai 2021 gesperrt werden. Dies meldet Wielerflits.nl. Hintergrund der Sperre ist

01.10.2020Alaphilippe in Lüttich erstmals im Regenbogentrikot

(rsn) - Weltmeister Julian Alaphilippe wird am Sonntag erstmals sein Regenbogentrikot in einem Rennen tragen. Der 28-jährige Franzose führt sein Team Deceuninck - Quick-Step beim Ardennenklassiker L

29.09.2020Groenewegen wird 2020 kein Rennen mehr bestreiten

(rsn) - Dylan Groenewegen (Jumbo - Visma) wird in diesem Jahr nicht mehr ins Peloton zurückkehren. Wie sein Sportdirektor Arthur van Dongen gegenüber der Zeitung AD mitteilte, wolle das Team dem Spr

Weitere Radsportnachrichten

18.04.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wie geht´s zum Liveticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morgen

18.04.2024TotA-Sturz: Harper kommt mit leichter Gehirnerschütterung davon

(rsn) – Entwarnung für Chris Harper: Der Australier von Jayco – AlUla ist bei seinem Sturz rund 25 Kilometer vor dem Ziel der Königsetappe der Tour of the Alps ohne schlimmeren Verletzungen dav

18.04.2024Die Aufgebote für das 8. Lüttich-Bastogne-Lüttich der Frauen

(rsn) – Mit der 8. Ausgabe des Lüttich-Bastogne-Lüttich der Frauen endet die Ardennenwoche. Während das Männerrennen von Lüttich aus nach Süden zum Wendepunkt in Bastogne und von dort wieder z

18.04.2024Die Aufgebote für das 110. Lüttich-Bastogne-Lüttich

(rsn) – Zum krönenden Abschluss der sogenannten steht am 21. April die 110. Ausgabe von Lüttich-Bastogne-Lüttich an. La Doyenne, wie das 1892 erstmals ausgetragene und damit älteste Eintagesrenn

18.04.2024Steinhauser: Giro-Test mit Prädikat sehr gut

(rsn) – Den Feinschliff für sein Grand-Tour-Debüt holt sich Georg Steinhauser (EF Education – EasyPost) derzeit bei der 47. Tour of the Alps (2.Pro). In wenigen Wochen geht es für den Allgäue

18.04.2024Belgrade Banjaluka: Ausreißer Albrecht zum Auftakt Zweiter

(rsn) – Zum Auftakt von Belgrade Banjaluka (2.2) hat das Team P&S Metalltechnik – Benotti einen starken Auftritt hingelegt. Auf der 140 Kilometer langen 1. Etappe zwischen Belgrad und Bijeljina b

18.04.2024Auf der Königsetappe macht Carr die schwachen Tage vergessen

(rsn) – Mit einem Soloritt über rund 30 Kilometer hat sich Simon Carr (EF Education – EasyPost) die Königsetappe der 47. Tour of the Alps (2.Pro) gesichert. Der 25-jährige Brite setzte sich üb

18.04.2024Hartmann: Aus “nur durchkommen“ wurden 74 km an der Spitze

(rsn) – Elena Hartmann bekam ihre völlig durchnässten Handschuhe kaum mehr von ihren frierenden Fingern. Als die 33-Jährige vom Team Roland oben auf der Mur de Huy 5:41 Minuten nach Siegerin Kata

18.04.2024Extrembedingungen beim Flèche, aber kein Schlechtwetterprotokoll

(rsn) – Zwei Rennen unter Extrembedingungen hart an der Grenze des Schlechtwetterprotokolls der UCI bot der Flèche Wallonne am Mittwoch: Nachdem beim Start der Männer um 11:15 Uhr in Chareleroi no

18.04.2024Trotz wenig Schlaf: Benoot holt ein “exzellentes Ergebnis“

(rsn) – Vor dem Start des 88. Flèche Wallonne in Charleroi hatte Tiesj Benoot (Visma – Lease a Bike) noch mehr über die Geburt von Töchterchen Loes gesprochen, die am Abend zuvor zur Welt gekom

18.04.2024Lüttich-Bastogne-Lüttich im Rückblick: Die letzten zehn Jahre

(rsn) – Lüttich-Bastogne-Lüttich bildet traditionell den krönenden Abschluss der Ardennenwoche. La Doyenne, das älteste Eintagesrennen der Welt, ist mit seinen kurzen, teils extrem steilen Anst

18.04.2024Lopez: “Einer der härtesten Tage meines Lebens“

(rsn) – Die 3. Etappe der Tour of the Alps 2024 wird den Teilnehmern lange in Erinnerung bleiben. Zwar hatte der 124,8 Kilometer lange Abschnitt rund um Schwaz in Tirol nur wenig an Spektakel zu bie

RADRENNEN HEUTE

    Radrennen Männer

  • Tour of the Alps (2.Pro, ITA)
  • Belgrade Banjaluka (2.2, BIH)