Heikos Tour

Doppelte Dramatik und ein souveräner Herrscher

Von Heiko Salzwedel

18.07.2005  |  Die Dramatik der gestrigen Etappe resultierte aus der Konstellation. Vorne wurde um den Tagessieg gefightet, in der Verfolgergruppe um den Gesamtsieg. Und die Gruppe mit den Sprintern fuhr ihr eigenes Rennen.

In der Fluchtgruppe gab es keine richtigen Außenseiter, aber auch niemanden, der die Favoriten für die Gesamtwertung hätte gefährden können. Das mag den riesigen Vorsprung von zwischenzeitlich 19 Minuten erklären. Ob Dekker, Boogerd, Hincapie, Perreiro oder Sevilla: alles Weltklassefahrer, die jederzeit für einen Sieg auf einer schweren Etappe in Frage kommen.

Deshalb gab es gestern gleich doppelte Spannung. Wer würde den Tagessieg holen und was würde sich zwischen dem Führungsquartett abspielen? Armstrong, Basso, Ullrich und auch Rasmussen schenkten sich wieder einmal nichts. Mich hat vor allem Jan Ullrichs Fahrweise begeistert. Nicht minder aber ein Ivan Basso, der augenscheinlich doch in Topform diese Tour fährt. Bjarne Riis hat hier als Manager und Trainer eine Meisterleistung vollbracht.

George Hincapie hat heute zwar das Rennen, aber nicht meinen uneingeschränkten Respekt gewonnen. Er hat Perreiro am Ende die Arbeit machen lassen und den Spanier schließlich überspurtet. Mag sein, dass aus den sogenannten alten Werte heute altmodische Werten geworden sein mögen. Aber ich bedaure, dass es offenbar immer mehr nur noch ums Siegen geht und weniger darum, wie man siegt. Insofern betreibt Discovery Channel keinen populären Sport, denn dieses Team hat wie kein anderes das Siegen unter allen Umständen zur Maxime seines Handelns erhoben. Und in diesem System, in dieser Maschinerie hat George Hincapie sich seine Verdienste als bedingungslos loyaler Helfer von Lance Armstrong erworben.

Womit wir beim Mann im Gelben Trikot wären. Die Leistung von Lance Armstrong grenzt ans Märchenhafte. Dieser Mann ist derart unverwundbar und dominierend, dass einem fast die Worte ausgehen, seine Leistung angemessen zu würdigen. Lance war jederzeit Herr der Lage, agierte klug, überlegt und taktisch ausgesprochen clever. Ich vermute, dass Armstrong und die Teamleitung den Angriff Hincapies geplant hatten. Das war die Belohnung für jahrelange Aufopferung im Dienste seines Kapitäns.

Zu T-Mobile: Mir ist an diesen Wochenende kein methodischer Fehler oder Patzer aufgefallen. Im Gegenteil: Die Mannschaftsleistung war auch gestern wieder aller Ehren wert. Auch dass Sevilla am letzten Anstieg zurückbeordert wurde und Ullrich auf den letzten Kilometern half, war richtig. Weniger, weil der Spanier Ullrich physisch unterstützen konnte, sondern eher aus moralischen Gründen. Ullrich fuhr offensichtlich im roten Bereich und hatte das, was man in der Fachsprache eine Laktatakkumulation nennt. Am Berg hat man aber keine Chance, den Laktatspiegel wieder abzusenken und sich wieder zu erholen.

Das T-Mobile-Teamwork war fast perfekt. Es war vollkommen richtig, auf Ullrich als Kapitän zu setzen und auf Klöden und Winokurow als Adjutanten. Und es war richtig, diese Stallorder gegen alle Anfechtungen und gut gemeinten Ratschläge von außen aufrechtzuerhalten. Winokurow hat sich wieder als wunderbar kämpfender Fahrer mit unbedingtem Siegeswillen erwiesen, aber seine Fahrweise war besonders gestern nicht unbedingt clever. Fast schien es mir, als ob der ungestüme, unbedachte Wino der früheren Jahre seine Wiederauferstehung feierte. Möglicherweise profitierte sogar Mickael Rasmussen, Jan Ullrichs Rivale um einen Platz auf dem Podium, von Winos Attacke am letzten Anstieg.

Die gestrige Etappe steht beispielhaft für die Entwicklung der Tour de France in den letzten Jahren, genauer gesagt: in der Ära Armstrong. Es gibt eine Spezialisierung, ja, Polarisierung ungeahnten Ausmaßes. Da sind die Fahrer, die um den Gesamtsieg fahren – auch wenn es sich letztlich immer wieder auf den Einen reduziert. Dann kommen all die Weltklassefahrer, die sich zunehmend darauf konzentrieren, an einem Tag den großen Coup zu landen – und mit einem Etappensieg wieder in der Versenkung zu verschwinden. An diesem einen Tag werden alle Körner in die Waagschale geworfen, in der Hoffnung auf den kurzzeitigen Triumph. Diese Konzentration der Kräfte auf einen entscheidende Tag ist eine Art Pokerspiel und verleiht der Tour eine ganz neue Qualität. Denn für die Fahrer, die auf die Gesamtwertung zielen, wird es immer schwerer, denn sie müssen sich auf jeder Etappe mit neuen Rivalen auseinandersetzen. Der Kampf ums Gelbe Trikot wird dadurch noch härter und intensiver.

Deshalb würde es auch keine Schmälerung der herausragenden Leistung von Lance Armstrong bedeuten, wenn er diesmal keine Etappe mehr gewinnen würde. Lance hat mit seinem Weitblick und mit der Art, wie er seine Mannschaft für seine Belange einsetzt, über Jahre hinweg Maßstäbe gesetzt. Er benutzt seine Mannschaft, aber er verbraucht sie nicht. Er fordert von seinen Helfern das, was nötig ist und nicht mehr. Das ist eine ausgesprochen kluge Taktik, die sich deutlich von der Vorgehensweise in der Vergangenheit unterscheidet, als beispielsweise ein Eddy Merckx seine Helfer regelrecht verheizte. Armstrong hat auch hier dafür gesorgt, dass die Tour in eine neue Dimension vorgestoßen ist.

Zur Person

Heiko Salzwedel ist einer der erfolgreichsten deutschen Radsporttrainer. Er führte im Jahr 1989 als Nationaltrainer der DDR-Bahnradfahrer den Vierer zu WM-Gold. Nach der Auflösung der DDR wurde er australischer Nationaltrainer und betreute Fahrer wie Robbie McEwen, Henk Vogels, Mathew White, Patrick Jonker und Kathy Watt. In seiner Profi-Mannschaft ZVVZ-GIANT-A.I.S. begannen Sportler wie Jens Voigt, Tomas Konecny, Jan Hruska, Nick Gates oder die beiden älteren Brüder von Michael Rogers (Deane und Peter) ihre erfolgreiche internationale Karriere.

Weitere Stationen des 48 jährigen Globetrotters aus dem thüringischen Schmalkalden waren das Amt des Leistungssportreferent beim Bund Deutscher Radfahrer, Teammanager im Britischen Radsportverband sowie Chef-Trainer der deutschen Frauen-Profimannschaft Equipe Nürnberger. Derzeit ist Salzwedel für die Nachwuchsförderung bei T-Mobile zuständig und Nationaltrainer der dänischen Bahn-Radsportler.

Heiko Salzwedel im Internet: http://www.sl-sports.com

Mehr Informationen zu diesem Thema

19.08.2005Holczer: "Jan Ullrich bleibt der Top-Favorit"

(sid) - Nach dem Doppelsieg seiner Schützlinge auf der Königsetappe der Deutschland-Tour ist Gerolsteiner-Teamchef Michael Holczer euphorisiert. Dennoch bleibt für ihn T-Mobile-Profi Ja

25.07.2005Tour de Lance – der Champion tritt ab!

Der letzte Auftritt Lance Armstrongs auf der Bühne der Tour de France war zugleich sein beeindruckendster. Ich habe an anderer Stelle schon geschrieben, dass ich Lance noch nie so stark und überlege

24.07.2005Rabobank blamiert sich

So etwas habe ich noch nie gesehen: Der Drittplatzierte der Gesamtwertung im wichtigsten Radrennen der Saison wird von seinem Team im Stich gelassen. Was Mickael Rasmussen, dem tapferen Dänen, am Sam

22.07.2005T-Mobile schlägt zurück!

Die gestrige Etappe war ein Krimi vom Anfang bis zum Ende. Schon bevor sich die zehnköpfige Spitzengruppe schließlich bilden konnte, hatten zahlreiche Profis versucht, sich aus dem Hauptfeld abzuset

21.07.2005Discovery Channel ist noch nicht satt

Die längste Etappe endete mit dem längsten Schlussspurt. Es war ein regelrechter Ausdauersprint, der vom Giro-Sieger Paolo Savoldelli gegen den Norweger Kurt-Arsle Arvesen souverän gewonnen wurde.

20.07.2005Evans packt bei Abfahrten der Horror

Erneut trübte eine schreckliche Tragödie die Vorfreude auf eine Tour-Etappe. War es vor zwei Wochen der Terroranschlag in London, so ist es diesmal die Nachricht vom tödlichen Trainingsunfall in T

17.07.2005Totschnig siegt mit Ansage

In der Woche noch wäre Georg Totschnig am liebsten aus der Tour ausgestiegen, weil nichts lief. Nur den aufmunternden Worten seiner Familie und seines Teamchefs Hans Michael Holczer war es zu verdank

16.07.2005Davitamon opfert sich für McEwen auf

Ich hatte für gestern zwar einen Sieg von Robbie McEwen erwartet, aber nachdem ich am Start der Etappe noch mit ihm gesprochen hatte, war meine Zuversicht etwas ins Wanken geraten. Robbie schien ein

15.07.2005Wer attackiert Armstrong?

Zunächst: Ehre, wem Ehre gebührt. Die Franzosen feuerten gestern pünktlich zum Nationalfeiertag ihren ersten Etappensieg bei dieser Tour. Drei französische Teams hatten Fahrer in der Ausreißergru

14.07.2005T-Mobile gibt nicht auf!

Aufatmen bei T-Mobile: Das Team lässt sich nicht unterkriegen. Winokurows Gipfelsturm gestern war ein ganz besonderes Husarenstück. Auch im Sprint hat Wino seine Form bestätigt und Botero keine Ch

13.07.2005Same procedure as every year

Die gestrige Etappe hat bei mir vor allem Ernüchterung hinterlassen. Lance Armstrong hat wieder einmal bewiesen, dass er der stärkste Fahrer im Feld ist. Er ist ein Rennfahrer wie von einem anderen

11.07.2005Voigts Gelbes überstrahlt Ullrichs Malheur

Niemand hat das Gelbe Trikot so verdient wie Jens Voigt. Der Berliner ist das Musterbeispiel eines Radprofis und gibt in jedem Rennen alles. Seine Arbeitsauffassung ist vorbildlich. Wie er auch heute

Weitere Radsportnachrichten

27.04.2024Königsetappe in der Romandie geht an Carapaz

(rsn) – Der Olympiasieger von 2021, der Ecuadorianer Richard Carapaz (EF Education – EasyPost) sichert sich die 4. Etappe der Tour de Romandie. Zwei Kilometer vor dem Zielstrich löste er sich von

27.04.2024“Alles in trockenen Tüchern“: Dorn hat Rot und Weiß sicher

(rsn) - Einen Tag vor Rundfahrtende hat Vinzent Dorn (Bike Aid) freudige Gewissheit. Nach dem Bergtrikot ist dem Freiburger bei der Tour of Turkiye (2.Pro) auch das Weiße Trikot der Zwischensprintwe

27.04.2024Andresen sprintet zum Tageserfolg in Izmir

(rsn) - Der Däne Tobias Lund Andresen feiert auf der 7. Etappe der 59. Tour of Türkiye seinen zweiten Sieg in wenigen Tagen und gleich den fünften für sein Team DSM Firmenich - PostNL bei der aktu

27.04.2024Reusser zurück im Feld und am Weg zu Olympia

(rsn) - Knapp ein Monat ist seit dem schweren Sturz bei der Flandern-Rundfahrt vergangen, der für die 32-jährige Marlen Reusser (SD Worx - Protime) schwere Folgen hatte. Ober- und Unterkiefer, die

27.04.2024Ein Klassikerfrühjahr 2025 mit Evenepoel?

(rsn) – Mit Lüttich-Bastogne-Lüttich hat Remco Evenepoel (Soudal – Quick Step) schon eines der fünf Monumente abgehakt, auch die Lombardei-Rundfahrt liegt dem jungen Belgier gut. Im nächsten J

26.04.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morg

26.04.2024Highlight-Video der 3. Etappe der Tour de Romandie

(rsn) – Brandon McNulty (UAE Team Emirates) hat das Einzelzeitfahren der 77. Tour de Romandie gewonnen. Der US-Meister in dieser Disziplin benötigte für den 15,5 Kilometer langen Parcours rund um

26.04.2024Helferrolle bei der Vuelta: Vorjahresfünfte Bauernfeind kränkelt

(rsn) – Im vergangenen Jahr hat eine Deutsche bei der Vuelta Espana Femenina die Weltspitze überrascht und ist bei den Bergankünften am Mirador de Penas Llanas und an den Lagos de Covadonga mit de

26.04.2024Teutenberg büßt Führung ein, peilt nun aber Gesamtwertung an

(rsn) - Auf der 2. Etappe der Tour de Bretagne (2.2) hat Tim Torn Teutenberg (Lidl - Trek Future Racing) das hellgrüne Trikot des Gesamtführenden abgeben müssen. Der 21-Jährige aus Mettmann, der

26.04.2024Bike Aid nach Türkei-Königsetappe “etwas enttäuscht“

(rsn) - Aufgrund der starken Leistungen an den ersten fünf Tagen und der guten Ausgangssituation für die Kletterer im Team ging Bike Aid optimistisch in die Königsetappe der Türkei-Rundfahrt (2.P

26.04.2024McNulty gewinnt Zeitfahren, Teamkollege Ayuso holt Gelb

(rsn) – 142 Fahrer lang musste Brandon McNulty (UAE Team Emirates) warten, ehe er endgültige Gewissheit darüber hatte, dass ihm seine 20:06 Minuten für das 15,5 Kilometer lange Zeitfahren auf der

26.04.2024Vermeersch von Lotto - Dstny zum UAE Team Emirates?

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Profiradsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder RÃ

RADRENNEN HEUTE

    WorldTour

  • Tour de Romandie (2.UWT, SUI)
  • Radrennen Männer

  • Presidential Cycling Tour of (2.Pro, TUR)
  • Gracia Orlová (2.2, CZE)
  • Tour de Bretagne (2.2, FRA)
  • Tour of the Gila (2.2, USA)