Diesmal Tränen der Freude statt der Enttäuschung

Degenkolb zaubert ein Gala-Finale auf den Asphalt von Sanremo

Von Felix Mattis

Foto zu dem Text "Degenkolb zaubert ein Gala-Finale auf den Asphalt von Sanremo"
Ungläubig schlägt John Degenkolb (Giant-Alpecin) auf der Via Roma seine Hände über dem Kopf zusammen. | Foto: Cor Vos

22.03.2015  |  (rsn) – „Auf dem Zielstrich war es pure Emotion“, sagte John Degenkolb auf der Pressekonferenz  – und genau danach sah es auch aus, als der Frankfurter auf der Via Roma in Sanremo über die Linie rauschte. Er schrie die Freude heraus, riss gerade noch vor der Linie die Arme hoch und ließ sie Sekundenbruchteile später ungläubig auf seinen Kopf hinunterfallen.

Tatsächlich war es kaum zu glauben, was der 26-Jährige auf den letzten zwei Kilometern von der Poggio-Abfahrt bis zum Zielstrich vollbrachte. Allein bahnte er sich seinen Weg durch die rund 30-köpfige Spitzengruppe, sortierte sich an zehnter Stelle im von Katusha angeführten Zug ein und hangelte sich dann bis zum Schlussspurt im Wind auf Rang vier vor, um von dort den für ihn typischen langen Sprint anzuziehen und auf den letzten Metern noch an Titelverteidiger Alexander Kristoff (Katusha) vorbeizufahren.

„Als Kristoff angetreten hat, dachte ich wirklich, er ist zu stark um ihn zu schlagen“, gab Degenkolb zu. „Aber ich habe immer gehofft, dass ich es noch schaffe. Und kurz vor dem Ziel ist er dann eingebrochen. Das Erste, was mir nach der Ziellinie einfiel war: Letztes Jahr hatte ich hier Tränen in den Augen wegen der größten Enttäuschung meines Rennfahrerlebens. In diesem Jahr sind es Tränen der Freude.“

Im vergangenen Jahr war Degenkolb bereits als Mitfavorit in Mailand gestartet, dann aber im Finale von einem Vorderraddefekt gestoppt worden. „Da hatte ich schon die Beine für einen Sprint wie heute, und es hat ernsthaft fast eine Woche gedauert um das zu verdauen“, so Degenkolb heute im Rückblick. „Glücklicherweise habe ich dann Gent-Wevelgem gewonnen.“ Bei dem belgischen Klassiker will Degenkolb auch diesmal eine Woche nach Sanremo erneut siegen. Es ist das zweite von vier harten Wochenenden hintereinander, denn darauf folgen die Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix, wo er 2014 Zweiter wurde.

„Das sind vier harte Wochen, aber ich bin mental bereit“, ist sich Degenkolb sicher, dass er gerüstet ist. Denn trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Geburt seines ersten Kindes am 2. Januar konnte er sich im Winter gut vorbereiten. „Viele sagen ja, dass die Familie vom Training abhält. Ich habe aber weiter trainiert, mein Sohn hat mich noch mehr motiviert.“

Einen ersten Beweis für die gute Arbeit im Winter lieferte er im Februar bei der Dubai-Rundfahrt, als er mit einem beeindruckenden Bergaufsprint am Hatta-Dammvor Alejandro Valverde (Movistar) triumphierte. Anschließend aber folgte ein ernüchterndes Paris-Nizza, wo er nach dem Grünen Trikot des Vorjahres diesmal ohne Etappensieg blieb. „Wichtig war, dass wir da nicht die Nerven verloren haben“, meinte er nun.

Die Nerven zu behalten, das war auch auf dem 293 Kilometer langen Weg von Mailand durch den Regen an die ligurische Küste und dort in Richtung Sonne nach Sanremo wichtig. Denn die Classicissima wurde einmal mehr nicht durch Angriffe an der Cipressa oder am Poggio entschieden, sondern erst unten auf den letzten flachen Metern in Richtung Ziel.

Bis dahin fuhr Degenkolb hellwach, rollte dank guter Positionierung schon in der Cipressa-Abfahrt mit einigen anderen Favoriten etwas vom Feld davon, zog dann aber nicht im Wind durch und hielt sich weiter zurück. Den Poggio schließlich überquerte er unter den ersten Zehn, hielt sich aber auch hier aus dem Wind und ritt auch keine panische Attacke, wie es anderen Siegkandidaten Jahr für Jahr passiert. „Das Wichtigste hier ist, seine Kraft zu sparen – die Beine schonen, die Beine schonen, die Beine schonen“, erklärte Degenkolb. „Wenn man mit leerem Tank auf die Via Roma kommt, kann man nicht mehr sprinten.“

Trotzdem war es wichtig, am Poggio weit vorne zu fahren. Denn nur knapp hinter Degenkolb krachte es in der Abfahrt – ein Sturz von Philippe Gilbert (BMC) nahm Weltmeister Michal Kwiatkowski, den Tschechen Zdenek Stybar (beide Etixx – Quick-Step) und auch den deutschen Sieger von 2013, Gerald Ciolek (MTN-Qhubeka) aus dem Rennen.

Unten in San Remo ging Degenkolb zunächst in den schützenden Windschatten der noch recht großen Gruppe und arbeitete sich dann nach und nach weiter nach vorne. Dabei musste er auf den letzten 1000 Metern zwar mehrmals im Wind auf der linken Seite des einreihigen Zuges antreten, doch das schadete ihm offensichtlich kaum.

„Das Wichtigste im Finale war, dass ich nicht eingebaut war und freie Fahrt hatte“, fand Degenkolb und hatte damit wohl Recht. Denn sein Dauerrivale von Paris-Nizza, der Australier Michael Matthews (Orica-GreenEdge), kam deutlich besser positioniert auf die Zielgerade, war dann aber einen Moment eingebaut, als der Deutsche vorbeizog und musste sich mit Rang drei begnügen.

Ein bärenstarkes Finale ist Degenkolb gefahren, doch ausgerechnet die Person, die sein Leben am 2. Januar nach eigener Aussage „komplett gemacht“ hat, schaute nicht zu: „Meine Frau hat gleich nach dem Ziel angerufen und erzählt, dass er geschlafen hat, als ich gesprintet bin“, so Degenkolb. Dann muss es wohl an einem der kommenden drei Wochenenden noch einmal klappen mit dem Klassikersieg, damit auch Leo Robert zuschauen kann.

Weiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößernWeiteres Foto - mit Klick vergrößern

Mehr Informationen zu diesem Thema

22.03.202022. März 2015: Degenkolb gewinnt Mailand - Sanremo

(rsn) - (rsn) - Vor genau fünf Jahren, am 22. März 2015, stürmte John Degenkolb zum bis dahin größten Sieg seiner Karriere. Bei Mailand - Sanremo setzte sich der Oberurseler im Sprint einer rund

23.03.2015Bouhanni hadert mit seinem Pech und den Teamkollegen

(rsn) –Zwar beendeten erstmals seit 1998 wieder zwei Franzosen Mailand-Sanremo in den Top Ten, doch während Tony Gallopin (Lotto Soudal) mit seinem neunten Rang auf der Via Roma zufrieden war, trau

23.03.2015Tom Dumoulin: „Ein Feiertag für uns alle"

(rsn) – Mit Simon Geschke (Schlüsselbeinbruch) und Nikias Arndt (Erkältung) fehlten bei Mailand-Sanremo gleich zwei wichtige Helfer, die Giant-Alpecin fest zur Unterstützung für John Degenkolb

23.03.2015Mailand-Sanremo: Der Poggio war zu hart für Greipel

(rsn) – Vor dem Start von Mailand-Sanremo zeigte sich André Greipel (Lotto Soudal) locker und gelöst. Der Deutsche Meister war zuversichtlich, es mit den Favoriten zusammen über den entscheidende

23.03.2015Bonifazio beim „Classicissima"-Debüt auf Platz fünf bester Italiener

(rsn) – Die Italiener müssen weiter auf ihren ersten Mailand-Sanremo-Sieger warten, seitdem Filippo Pozzato vor nunmehr neun Jahren den ersten der großen Klassiker für sich entscheiden konnte. D

23.03.2015Bei Mailand-Sanremo stach keiner der drei Etixx-Trümpfe

(rsn) – Mit gleich drei Trümpfen war das Etixx-Quick-Step-Team in die 106. Auflage von Mailand-Sanremo gestartet. Mark Cavendish, Sieger von 2009, sollte im Sprint stechen, falls er in der ersten g

23.03.2015„Mr. Cool" verließ sich im Finale auf seine Intuition

Sanremo (dpa/rsn) - Hinter dem alten Bahnhof von Sanremo verdrückten Tom Dumoulin und Roy Curvers Freudentränen. Der Held des Tages fehlte in diesem Moment. John Degenkolb hatte auf der Siegertribü

23.03.2015Ciolek: „John hat diesen Sieg mehr als verdient"

(rsn) – Ein Sturz in der Abfahrt vom Poggio zerstörte Gerald Cioleks Traum vom zweiten Mailand-Sanremo-Sieg nach 2013. Im Ziel stellte sich der Pulheimer, der für den südafrikanischen Zweitdivis

23.03.2015Kristoff meistert Cipressa-Krise dank perfekter Hilfe von Paolini

(rsn) – An der Cipressa war es fast vorbei: Titelverteidiger Alexander Kristoff (Katusha) befand sich am Ende des Feldes und drückte einen schweren Gang nur noch gerade so herum. Er wankte von link

23.03.2015Matthews enttäuscht über seinen dritten Platz in Sanremo

(rsn) – Im zweiten Anlauf Dritter bei Mailand – Sanremo zu werden, das ist mehr als respektabel. Und wenn man sieht, wie Michael Matthews (Orica-GreenEdge) an Cipressa und Poggio gefahren ist, dan

22.03.2015Kwiatkowski: „Der Helm hat mir heute mein Leben gerettet“

(rsn) – Ale einer der Mit-Favoriten gestartet, konnte Michal Kwiatkowski auch diesmal das Ziel von Mailand-Sanremo nicht erreichen. Im Gegensatz zu den beiden letzten Auflagen, wo extreme Wetterbedi

22.03.2015Mailand-Sanremo: Ciolek will 2016 Wiedergutmachung von Gilbert

(rsn) - Mit John Degenkolb (Giant-Alpecin) konnte der zweite deutsche Fahrer binnen drei Jahren Mailand-Sanremo gewinnen. Für die Deutschen wäre bei der 106. Austragung des Frühjahrsklassikers sog

Weitere Radsportnachrichten

14.05.2024Pogacar rechnet in zweiter Giro-Hälfte mit Attacken seiner Gegner

(rsn) – Angesichts des deutlichen Vorsprungs von 2:40 Minuten auf den zweitplatzierten Daniel Martinez (Bora – hansgrohe) und in überlegener Manier herausgefahrenen drei Etappensiegen zweifelt ka

14.05.2024Kooij, Kanter und Vernon nicht mehr beim Giro dabei

(rsn) – Die Fraktion der Sprinter beim Giro d’Italia ist nach dem ersten Ruhetag um gleich drei Namen geschrumpft. Olav Kooij (Visma – Lease a Bike), Max Kanter (Astana Qazaqstan) und Ethan Vern

14.05.2024Liste der ausgeschiedenen Fahrer / 10. Etappe

(rsn) - 176 Profis aus 22 Teams sind am 4. Mai zum 107. Giro d’Italia (2.UWT) angetreten, darunter auch zwölf Deutsche, vier Österreicher, zwei Schweizer und ein Luxemburger. Hier listen wir a

14.05.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morgen

13.05.2024Bergankunft Nr. 3: Kurze Etappe, langer Schlussanstieg

(rsn / ProCycling) – Schon in der ersten Woche des 107. Giro d´Italia hat es Ausreißversuche gegeben, die von Erfolg gekrönt waren. Doch erst die 10. Etappe durch den südlichen Apennin weist ein

13.05.2024Martinez und Bora wollen nicht nur Platz 2 verteidigen

(rsn) – Sollte der Status Quo beim Giro d´Italia auch nach der Schlussetappe in Rom noch Bestand haben, so wäre man bei Bora – hansgrohe sicher zufrieden. Ein zweiter Gesamtplatz mit Kapitän Da

13.05.2024Schachmann: Etappenjäger in wichtiger Doppelfunktion

(rsn) – Maximilian Schachmann (Bora – hansgrohe) hat sich von seinem Sturz 58 Kilometer vor dem Ziel der 9. Etappe beim Giro d´Italia bereits recht gut erholt. Das bestätigte der 30-Jährige am

13.05.2024Mit Rouvy Grand-Tour-Recon im Wohnzimmer?

(rsn) - Analoge und digitale Welten verschränken sich immer mehr, auch beim Radsport. Auf besondere Weise dreht Rouvy mittlerweile die Schraube weiter. Auf der 2017 von den Brüdern Petr und Jiri Sam

13.05.2024Erholter Démare kehrt in Dünkirchen ins Feld zurück

(rsn) – Nachdem er aufgrund von Erschöpfungserscheinungen seine Klassikerkampagne bereits nach Gent-Wevelgem am 27. März hatte beenden müssen, kehrt Arnaud Démare (Arkéa - B&B Hotels) in seiner

13.05.2024Thomas kritisiert Neapels Straßen: “War ein absolutes Gemetzel“

(rsn) – Ein astreiner Massensprint und breite Straßen auf den letzten Kilometern: Auf den ersten Blick war das Finale der 9. Etappe beim Giro d´Italia in Neapel nichts Besonderes. Doch im Peloton

13.05.2024Die letzten Hügel taten Milans Beinen weh

(rsn) – Im vergangenen Jahr musste sich Jonathan Milan in Neapel am Ende der damaligen 6. Giro-Etappe Mads Pedersen geschlagen geben. Damals stand der Italiener noch bei Bahrain Victorious unter Ver

13.05.2024Bringt der Flèche du Sud den erhofften “Bumms“?

(rsn) - Gleich fünf der neun deutschen Kontinental-Teams waren in der vergangenen Woche beim Fléche du Sud (2.2) dabei. In Luxemburg standen sie allerdings zumeist im Schatten ihrer für internatio

RADRENNEN HEUTE

    WorldTour

  • Giro d´Italia (2.UWT, ITA)
  • Radrennen Männer

  • 4 Jours de Dunkerque / Grand (2.Pro, FRA)
  • Tour d´Algérie (2.2, DZA)