Mein Radsport-Ereignis 2015

Ein Schutzengel namens Rudi

Von Wolfgang Brylla

Foto zu dem Text "Ein Schutzengel namens Rudi"
Rüdiger Selig erwies sich bei Dwars Door Vlaanderen als Schutzengel von Marcel Aregger. | Foto: Cor Vos

10.12.2015  |  (rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Wolfgang Brylla hat ganz besonders Katusha-Sprinter Rüdiger Selig imponiert, der bei Dwars Door Vlaanderen einem schwer gestürzten Kollegen aus der Schweiz als Erster zur Hilfe eilte. 

Passiert in einem Radrennen ein Unfall, ist jeder nur mit sich selbst beschäftigt. Sind alle Knochen ganz? Taugt das Rennrad noch oder muss schnell ein Neues her? Dabei wird den anderen Sturzopfern wenig Beachtung geschenkt, was allein schon deshalb nicht überraschen kann, weil Massenkarambolagen zum Bestandteil des Radsports gehören.

Die Profis scheinen gegen solche Zwischenfälle mittlerweile immun geworden, auch gegen die mit eigener Beteiligung. Schwere Verletzungen sind an der Tagesordnung. Wenn ein Kollege auf den Kopf gefallen ist und regungslos auf dem Boden liegt, wird das im Eifer des Gefechts schlicht nicht wahrgenommen. Für die erste Hilfe sind zudem die Rennärzte verantwortlich, sie sollen ihren Job machen.

Hätte Marcel Aregger im März dieses Jahres beim belgischen Frühjahrsklassiker Dwars door Vlaanderen auf den Arzt warten müssen, wären die Schäden, die er davongetragen hätte, möglicherweise schlimmer gewesen. Da der Schweizer allerdings einen Schutzengel hatte, wurde er „nur“ mit einem Schlüsselbeinbruch und einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert. Der Schutzengel hieß Rüdiger, genannt Rudi Selig und war kurz zuvor selbst im Matsch des Straßengrabens gelandet.

Der deutsche Sprinter vom Team Katusha wollte zunächst weiterfahren. Den Körper – gecheckt; das Rennrad – gecheckt. Jetzt schnell zurück auf die Strecke und weiter geht’s. Dann aber sah er Aregger vor sich mit dem Gesicht nach unten liegen. Zu diesem Zeitpunkt wusste Selig noch nicht, dass er sich ebenfalls eine kleine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Der Berliner schmiss sein Rad weg und lief zu Aregger hinüber. Der war nicht ansprechbar und lag in einer Blutlache, die bei Selig schlimmste Ahnungen und Vermutungen hervorrief. ‚Ist mit ihm alles in Ordnung? Und, verdammt, wo bleiben die Sanitäter?‘ fragte er sich. ‚Bloß nicht in Panik geraten, methodisch vorgehen, mit Aregger Kontakt aufnehmen, bis ein medizinischer Helfer kommt.‘

Selig schickte einen seiner Mannschaftskollegen nach hinten, um den Ärzten Bescheid zu geben, dass neben der Strecke jemand dringend Hilfe benötigt. Als die Krankenpfleger so zur Sturzstelle gelotst wurden und Aregger vorsichtig umdrehten, konnten sie schon schnell erste Entwarnung geben.

Für den über und über mit Schlamm bedeckten Selig war das Rennen übrigens vorbei. Sein sportliches Ziel hatte er verfehlt, dafür ein viel Wichtigeres erreicht. Selig zeigte, dass es nicht nur auf den Erfolg ankommt, sondern auch auf gegenseitigen Respekt und Hilfe, die, wenn es darauf ankommt, von größerer Relevanz sind als die Jagd um erste, zweite oder dritte Plätze.

In den heutigen Zeiten, in denen jedes technische Detail, jede Sekunde über Sieg oder Niederlage entscheiden können, gewinnt man den Eindruck, dass der Radsport geradezu mechanisiert, ja fast schon entmenschlicht worden ist. Mit seiner Haltung bewies allerdings Selig das Gegenteil: Auch wenn die Sponsoren ihr Firmenlogo auf dem Treppchen sehen möchten und der Druck von Seiten der Sportlichen Leitung erhöht wird, so darf man die anderen nicht nur als Gegner sehen - weil auch ein Rennfahrer ein Mensch ist.

Und wenn sich um die Gesundheit der Fahrer weder die Lenker von neutralen Materialwagen, die Profis rücksichtslos über den Haufen fahren, oder die Rennveranstalter, welche die Gefahrenzonen schlampig markieren, kümmern, dann müssen es die Rennfahrer eben selbst tun. Auch um ein Zeichen zu setzen: Wir sind keine Roboter, für die nur das Ergebnis gilt!

Aus diesen Gründen ist Rüdiger Seligs faires und zutiefst humanes Verhalten am 25. März 2015 in der verregneten flämischen Provinz mein Radsportereignis des Jahres.

Mehr Informationen zu diesem Thema

24.12.2015Der Schock von Aldeburgh und das Happy End in Richmond

(rsn) - John Degenkolbs Sanremo-Roubaix-Double, Tony Martins lange ersehntes Gelbes Trikot, Emanuel Buchmanns überraschender DM-Sieg, Simon Geschkes Triumph in Pra Loup, André Greipels vier Etappens

23.12.2015Münsterland Giro - mein erstes deutsches Rennen

(rsn) - Es mag komisch klingen, ist aber tatsächlich wahr: Der deutsche Radsport war einst der Auslöser meines Interesses an Deutschland. Während der Tour de France 2001 hatte ich in meiner Heimats

22.12.2015John Degenkolb holt Paris-Roubaix - und das Team aufs Podium

(rsn) - Endlich. Seit der Premiere 1896 gewann kein Deutscher mehr Paris-Roubaix: Bis zum 12. April 2015. Doch was mich an diesem Tag am meisten begeisterte, war nicht die eindrucksvolle Fahrt von Joh

21.12.2015Bayern Rundfahrt: Familienbetrieb mit Herz und Verstand

(rsn) – Die Bayern-Rundfahrt 2015 war die beste aller bisherigen 36 Austragungen, wie Ewald Strohmeier nicht ohne Grund sagte. Wer den Chef des einzigen deutschen Mehretappenrennens kennt, der weiß

20.12.2015"Big mistake" im Interview mit Boonen

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Christoph Adamietz hatte in diesem Jahr bei "Rund um Köln" einen Eins

06.12.2015Monumentaler Lombardei-Triumph wie aus dem Bilderbuch

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Für Guido Scholl war es der Triumph von Vincenzo Nibali (Astana) bei

05.12.2015"Spartakus" zeigte Größe durch Menschlichkeit

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Thomas Goldmann erklärt in seinem Beitrag, weshalb für ihn Fabian Ca

03.12.2015"Simonis" großer Auftritt in Pra-Loup

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Für Lorenz Rombach steht ohne Zweifel fest: Simon Geschkes couragiert

02.12.2015Hart wie Hansen

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Daniel Brickwedde bewundert einen Marathon-Man von Down Under, dessen

01.12.2015Der "Gorilla" spielte endlich die erste Geige

(rsn) - Wie schon im vergangenen Jahr schreiben die Mitarbeiter der Redaktion von Radsport News über ihr Radsport-Ereignis 2015. Den Anfang macht Sebastian Lindner, den die Auftritte von André Greip

Weitere Radsportnachrichten

11.05.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morgen

11.05.2024Highlight-Video der 8. Etappe des Giro d´Italia

(rsn) – Die 8. Etappe des 107. Giro d´Italia hätte eine für kletterstarke Ausreißer sein können. Entsprechend groß war der Kampf um die Plätze in der Spitzengruppe zu Beginn und entsprechend

11.05.2024Geschke und Steinhauser beeindrucken in glückloser Gruppe

(rsn) – Zwei Deutsche haben die 8. Etappe des Giro d´Italia quer durchs Apennin in Richtung Bergankunft in Prati di Tivo maßgeblich mitgeprägt: Simon Geschke (Cofidis) und Georg Steinhauser (EF E

11.05.2024Flachetappe in die Hauptstadt der Pizza-Liebhaber

(rsn / ProCycling) – Die Verbindung der Rennorganisatoren RCS mit Neapel scheint in den letzten Jahren besonders eng geworden zu sein. Zum dritten Mal in Folge schlägt der rosa Zirkus seine Zelte i

11.05.2024Teamkollegen überredeten Pogacar, im Apennin auf Sieg zu fahren

(rsn) - Normalerweise sagt im Radsport der Kapitän, wann und wie er auf Sieg fahren will. Das ist sicher auch bei Tadej Pogacar und seinem UAE Team Emirates so. Mit dem Unterschied, dass die Mannscha

11.05.2024Sturz in Spitzengruppe raubte Santic - Wibatech die Siegchance

(rsn) - Bei der Silesian Classic (1.2), einem neuen UCI-Eintagesrennen in Polen, hätte sich das deutsche Team Santic - Wibatech beinahe den Premierensieg gesichert. Nach 160 Kilometern fuhren die be

11.05.2024Fleche du Sud: Rüegg auf Podiumskurs, Rapp und Peter lauern

(rsn) - Das 18,6 Kilometer lange Einzelzeitfahren am Vorschlusstag des Fleche du Sud (2.2) hat nur wenig Veränderungen im Gesamtklassement gebracht. So geht weiterhin der Niederländer Pim Ronhaar (

11.05.2024Martinez hatte den Sieg vor Augen, bis Pogacar antrat

(rsn) – Mit dem Tagessieg bei der Apennin-Bergankunft in Prati di Tivo hat es für Bora – hansgrohe auf der 8. Etappe des Giro d´Italia nicht geklappt. Überflieger Tadej Pogacar (UAE Team Emirat

11.05.2024Thomas “überrascht, dass andere abgehängt wurden“

(rsn) – Zwei Minuten Zeitverlust auf Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) im Einzelzeitfahren am Freitag: Die Aussichten für Geraint Thomas (Ineos Grenadiers) vor der zweiten Bergankunft des 107. Giro

11.05.2024Großschartner: “Der Etappensieg war eigentlich nicht unser Ziel“

(rsn) – Das Finale der 8. Etappe des Giro d’Italia (2.UWT) ging Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) eher gemächlich an. Statt einer frühen Attacke verließ sich der Slowene auf seine SprintqualitÃ

11.05.2024Pogacar holt Etappensieg Nr. 3, diesmal im Sprint am Berg

(rsn) – Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) hat einen Tag nach seinem zweiten Etappensieg beim 107. Giro d’Italia gleich den dritten nachgelegt. Auf der 8. Etappe von Spoleto zur Bergankunft von Pra

11.05.2024Nys lässt Hirschi und Co. im Bergaufsprint keine Chance

(rsn) – Thibau Nys (Lidl – Trek) hat bei der Ungarn-Rundfahrt seinen zweiten Etappensieg in Folge gefeiert. 24 Stunden nachdem der 21-jährige Belgier an der Bergankunft von Gyöngyös-Kékestö d

RADRENNEN HEUTE

    WorldTour

  • Giro d´Italia (2.UWT, ITA)
  • Radrennen Männer

  • Tour de Hongrie (2.Pro, HUN)