Mein Radsport-Ereignis 2016: Amstel Gold Race

Denkwürdiger Sieg für einen toten Teamkollegen

Von Lorenz Rombach

Foto zu dem Text "Denkwürdiger Sieg für einen toten Teamkollegen"
Enrico Gasparotto (Wanty-Groupe Gobert) gewinnt das Amstel Gold Race 2016. | Foto: Cor Vos

24.12.2016  |  (rsn) – In Sachen Rennverlauf war die 51. keine besonders bemerkenswerte Austragung des Amstel Gold Race. Wie bereits in den vergangenen Jahren wurde der erste der drei Ardennenklassiker erst auf den letzten Kilometern entschieden, ähnlich wie kurz darauf Flèche Wallone und Lüttich-Bastogne-Lüttich. Doch die besonderen Umstände, unter denen Enrico Gasparotto seinen Sieg feierte und die bemerkenswerte Fahrweise des Italieners machten das Rennen zu meinem Radsport-Ereignis des Jahres.

Exakt drei Wochen zuvor fand der belgische Kopfsteinklassiker Gent-Wevelgem statt, der eine tragische Wirkung auf Gasparotto und sein belgisches ProContinental-Team Wanty-Groupe Gobert haben sollte. Wanty-Profi Antoine Demotié stürzte im Verlauf des Rennens und wurde sofort in ein Krankenhaus im nahegelegenen Lille gebracht. Schnell sickerte die Nachricht durch, dass der Zustand des Belgiers kritisch war. Mehr als 1000 Kilometer weiter südlich hatten seine Teamkollegen gerade die letzte Etappe der schweren Katalonien-Rundfahrt hinter sich gebracht und warteten auf ihren Flieger zurück nach Belgien, als sie erfuhren, dass Demotié in Lebensgefahr schwebte.

In der Nacht zum Montag erlag der 25-Jährige schließlich seinen schweren Verletzungen. Gasparotto erfuhr am frühen Montagmorgen vom Tod seines Teamkollegen, als er in seiner Schweizer Heimat von Dopingkontrolleuren geweckt wurde, die scheinbar nichts von den traurigen Umständen wussten.

Nachdem tragischen Tod ihres Teamkollegen entschieden sich die Fahrer des belgischen Teams dazu, nicht bei den unmittelbar nach Gent-Wevelgem stattfindenden 3 Tagen von de Panne zu starten. Stattdessen stiegen sie bei der Flandern-Rundfahrt wieder ins Renngeschehen ein und trugen beim Einschreiben T-Shirts mit der Aufschrift „Ride for Antoine“, der auch auf ihren Rähmen eingraviert war. Und auch durch ihre Fahrweise gedachten die Fahrer ihrem verstorbenen Teamkollegen. Der Debütant Dimitri Claeys hielt sich das ganze Rennen über in der Gruppe des Tages und wurde am Ende Neunter. Auch beim Pfeil von Brabant zeigte sich das Team offensiv, und am Ende war es Gasparotto, der einen sehr guten zweiten Platz einfuhr.

Doch sein Meisterstück lieferte er beim Amstel Gold Race ab. Und nicht nur Gasparotto: Seine Teamkollegen gaben das gesamte Rennen über alles, um ihrem Kapitän den Sieg zu ermöglichen. Tom Devriendt fuhr in der Gruppe des Tages und bei einer Konterattacke gut 80 Kilometer zeigte sich der Deutsche Björn Thurau wachsam. So konnte sich der explosive Gasparotto im Feld verstecken und auf die letzten, entscheidenden Kilometer warten. Die Tempoarbeit übernahmen derweil die „Großen“, insbesondere die britische Sky-Mannschaft und die australische Orica-Formation. Sie kontrollierten das Geschehen, um ihren Kapitänen Simon Gerrans und Michael Matthews (Orica) beziehungsweise Michal Kwiatkowski (Sky) eine Möglichkeit zu bieten, am finalen Cauberg zum Sieg zu sprinten.

Mit den vielen Kreisverkehren, Verkehrsinseln und den engen Straßen Limburgs, ganz zu schweigen von den 34 Hellingen, die es zu überqueren gilt, ist das Amstel Gold Race ungemein schwer zu kontrollieren. Für Sky lief es schlecht, als Kwiatkowski an der vorletzten Passage des Caubergs abgehängt wurde, nachdem seine Teamkollegen so viel Arbeit für ihn verrichtet hatten. Derweil war es immer noch die Orica-Mannschaft, die im Feld für das Tempo sorgte. Doch meist direkt dahinter fuhr der wachsame Gasparotto, der seine Körner noch aufsparte und ruhig blieb, obwohl er im Finale isoliert war.

Auch als zunächst Roman Kreuziger (Tinkoff), Sieger von 2011, und schließlich der starke Belgier Tim Wellens (Lotto Soudal) attackierten, hielt der kleine Italiener die Beine still. Als Wellens an der Kuppe des Bemelerberg ging, konnte man sehen, wie Gasparotto kurz aus dem Sattel ging, sich jedoch dann dazu entschloss, am Hinterrad der Orica-Fahrer zu bleiben. Die hatten mit Michael Albasini und Daryl Impey noch zwei starke Helfer dabei und Gasparotto wusste, dass man im Cauberg schnell 30 Sekunden verlieren konnte, insbesondere wenn man die Abfahrt zum Fuße des Anstiegs alleine bewältigen musste.

Als Wellens zur Hälfte des Anstiegs in Sichtweite war, holte Gasparotto schließlich zum großen Schlag aus. Er fuhr schnell einige Meter auf die nächsten Verfolger Jan Bakelants (Ag2r) und Michael Valgren (Tinkoff) heraus und konnte zu Wellens aufschließen und den glücklosen Belgier stehenlassen. Als er die frühere Ziellinie erreichte, schaltete er auf das große Kettenblatt und konnte sich nun endgültig absetzen. Dies war Gasparottos einzige Chance auf den Sieg, da er zwar durchaus endschnell, gegen Fahrer wie Matthews allerdings chancenlos ist.

Letztendlich entscheidend für den Erfolg seiner Attacke war jedoch der Vorstoß eines anderen Fahrers. Valgren nämlich setzte sich an der Kuppe von einer kleinen Gruppe um Matthews ab und schloss alleine zum Italiener auf. Der fuhr noch etwa 400 Meter in der Führung, bevor er dem 24-jährigen Dänen die Arbeit überließ. Auf dem letzten Kilometer spielte der Italiener seine gesamte Erfahrung aus zwölf Profijahren aus. Er bemerkte schnell, dass Valgren gewillt war, die Arbeit zu verrichten, um zumindest Zweiter zu werden, und da er sich immer wieder umdrehte, wusste er, dass die Verfolger nicht näher kamen – es gab also keinen Grund, mehr zu tun.

250 Meter vor dem Ziel eröffnete Gasparotto schließlich seinen Sprint und verwies Valgren deutlich auf den zweiten Platz. Vor vier Jahren hatte er an gleicher Stelle schon einmal triumphiert, doch diesmal sah man Gasparotto an, dass dies ein ganz besonderer Erfolg war. Seit dem Amstel Gold Race 2012 hatte er keinen Sieg mehr einfahren können, und am Ende der Saison 2015 erhielt er von seinem damaligen Astana-Team keinen Vertrag mehr und war gezwungen, einen Schritt zurückzugehen. Der Wechsel zum zweitklassigen Wanty Groupe Gobert-Team erwies sich dabei als goldrichtig.

Drei Wochen lagen zwischen dem Tod des jungen Antoine Demotié und dem Sieg am Cauberg, und man merkte Gasparotto und dem gesamten Team an, dass das der Moment war, auf den sie entschlossen hingearbeitet hatten. Der Italiener hatte sich sogar dazu entschieden, nicht an der Trauerfeier teilzunehmen und allein ein Trainingslager am Mount Teide auf Teneriffa bezogen. Im Siegerinterview sagte, er, dass er während seiner langen und harten Einheiten immer wieder an Demotié gedacht habe und ihn der Gedanke, für ihn zu gewinnen, beflügelt habe. Beim Amstel Gold Race schlug er dann zu und holte einen großen und denkwürdigen Sieg für die kleine belgische Equipe.

Mehr Informationen zu diesem Thema

29.12.2016Ein Berg. Ein Radprofi. Kein Rad!

(rsn) - Wann kann man sich sicher sein, dass ein Radsport-Ereignis wirklich ein Ereignis und nicht "nur" ein packendes Rennen, eine kuriose Szene oder ein bewegender Augenblick war? Ganz einfa

28.12.2016Champs-Élysées-Triumph mit viel Kraft und Willen

(rsn) – Die Vorzeichen standen gut für André Greipel, auch von seiner sechsten Tour de France en suite mit einem Etappensieg im Gepäck ins heimische Hürth zurückzukehren. Der Kapitän des Lotto

28.12.2016Peter Sagan: Back to the Roots

(Ra) - Peter Sagan in Rio auf dem Moutainbike - da hat sich so mancher doch gewundert... Aber Sagans Wurzeln im Radsport sind auf dem Bergrad gewachsen: Als Siebenjähriger startete er bei einem slowa

26.12.2016Drama am Colle dell´Agnello

(rsn) - Vor den letzten beiden Bergetappen des Giro d´Italia 2016 schienen die Trauben bereits verteilt. Kaum jemand hätte noch damit gerechnet, dass die Gesamtwertung einen derartig dramatischen Um

25.12.2016Noch immer der König der Zielgeraden

(rsn) - Man hatte ihn schon abgeschrieben. Ihn, den ehemaligen Straßenweltmeister, einen der besten Sprinter der Radsportgeschichte. "Er wird nicht mehr jünger“, sagten die einen. "Das Siegen hat

24.12.2016"Rambazamba“ im Konvoi

(rsn) – Nach dem gestrigen Ruhetag ging es in die entscheidende Phase der Vuelta. Heute führte die Strecke wieder in höllischem Tempo über die Autobahn aus Alajuela raus. Die Attacken zogen das

23.12.2016Die große Contador/Quintana-Show

(rsn) - Der aufregendste Tag der Vuelta 2016 war der 4. September. Auf der 15. Etappe, dem 119 Kilometer langen Teilstück mit Bergankunft am Arámon Formigal, entschlossen sich zwei der besten Bergf

22.12.2016Imposante Strecke, gespenstische Kulisse

(rsn) – Die Redaktionsmitglieder von radsport-news.com und radsport-aktiv.de sowie ihre freien Mitarbeiter und Helferlein haben 2016 rund um das Thema Radrennen viel erlebt. Sie alle blicken zum Ab

Weitere Radsportnachrichten

12.05.2024Trotz widriger Umstände rast Kooij beim Giro zum ersten Sieg

(rsn) - Die ersten beiden Massensprints des diesjährigen Giro d’Italia (2. UWT) liefen nicht nach dem Geschmack von Olav Kooij und seinem Team Visma – Lease a Bike. Doch die dritte Chance konnte

12.05.2024Krieger bei Sturz auf 9. Giro-Etappe schwer verletzt

(rsn) – Nach einem schweren Sturz im Finale der 9. Etappe musste Alexander Krieger mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Wie sein Team Tudor am Abend auf X mitteilte, sei der St

12.05.2024Auch ohne Sieg ist Buchmann ein Gewinner der Ungarn-Rundfahrt

(rsn) – Den Frust über seine Giro-Ausbootung hat Emanuel Buchmann (Bora – hansgrohe) in viel Angriffslust umgewandelt. Nachdem er bereits am 1. Mai bei Eschborn-Frankfurt (1.UWT) mit einer offens

12.05.2024Kooj triumphiert im Sprint-Krimi von Neapel vor Milan

(rsn) – Olav Kooij (Visma – Lease a Bike) hat die 9. Etappe des 107. Giro d’Italia im Massensprint gewonnen. Nach 214 Kilometern mit Start in Avezzano und Ziel in Neapel jagte er auf den letzten

12.05.2024Flèche du Sud: Teutenberg-Team am Schlusstag auf 1-2-3

(rsn) – Der Flèche du Sud (2.2) ist für viele der deutschsprachigen Fahrer und Teams erfreulich zu Ende gegangen. Am Schlusstag feierte Tim Torn Teutenberg mit seinem Team Lidl – Trek Future Ra

12.05.2024Narvaez: “Manchmal klappt es und manchmal nicht“

(rsn) – Rund 30 Meter fehlten Jhonatan Narvaez (Ineos Grenadiers) im Finale der 9. Etappe des Giro d’Italia (2.UWT) – stattdessen ging der Sieg an Olav Kooij (Visma – Lease a Bike). Die letzte

12.05.2024Buchmann erneut kurz vorm Ziel abgefangen - diesmal von Poels

(rsn) – Wie schon an der ersten Bergankunft beeindruckte Emanuel Buchmann (Bora – hansgrohe) auch auf der alles entscheidenden 5. Etappe der 45. Tour de Hongrie (2.Pro). Er musste auf den letzten

12.05.2024Highlight-Video der 9. Etappe des Giro d´Italia

(rsn) – Olav Kooij (Visma – Lease a Bike) hat auf der 9. Etappe des 107. Giro d’Italia seinen ersten Tagessieg bei einer Grand Tour gefeiert. Der 22-jährige Niederländer entschied nach 214 Kil

12.05.2024Liste der ausgeschiedenen Fahrer / 9. Etappe

(rsn) - 176 Profis aus 22 Teams sind am 4. Mai zum 107. Giro d’Italia (2.UWT) angetreten, darunter auch zwölf Deutsche, vier Österreicher, zwei Schweizer und ein Luxemburger. Hier listen wir a

12.05.2024Vollering stürmt mit 30-km-Solo am letzten Tag ins Gelbe Trikot

(rsn) – Mit einem Solo über gut 30 Kilometer hat Demi Vollering (SD Worx – Protime) am letzten Tag der 3. Itzulia Women (2.WWT) ihrer Teamkollegin Mischa Bredewold das Gelbe Trikot noch abgenomme

12.05.2024Sarnowski fehlen 100 Meter zum ersten UCI-Sieg

(rsn) – Tillman Sarnowski (Embrace The World) hat beim GP de la Ville d`Oran (1.2) in Algerien sein erstes UCI-Podium in einem Eliterennen eingefahren. Der 19-Jährige, 2022 Gesamtsieger der U19-

12.05.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morgen

RADRENNEN HEUTE

    WorldTour

  • Giro d´Italia (2.UWT, ITA)
  • Radrennen Männer

  • Tour d´Algérie (2.2, DZA)