Versuch einer systematischen Beantwortung

So gut und so schlecht funktioniert der individuelle Blutpass

Von Tom Mustroph

Foto zu dem Text "So gut und so schlecht funktioniert der individuelle Blutpass"
Der Blutpass hat Schwachstellen. Foto: efe

05.03.2019  |  (rsn) - Der Dopingskandal um den Erfurter Arzt Mark Schmidt und die mutmaßlich von ihm vorgenommenen Bluttransfusionen werfen Fragen nach der Effektivität des Kontrollsystems auf. Versuch einer systematischen Beantwortung.

Funktioniert der Individuelle Athletenblutpass?
Ja und Nein. Im November 2018, anlässlich eines Kongresses zum Blutpassprogramm in Rom, verkündete der Welt-Anti-Dopingagentur WADA stolz, dass mittlerweile etwa 150 Doper allein aufgrund des Blutpasses aufgespürt wurden und in mehreren 100 Fällen die Blutpassprofile bei der Aufklärung hilfreich waren. Das ist das Ja.

Beispiele für das Nein sind die jetzt verhafteten Athleten aus dem Wintersport und auch die geständigen Radprofis Stefan Denifl und Georg Preidler. Ihre Blutentnahmen und Retransfusionen (Denifl) wurden nicht entdeckt. Das liegt an einem Mangel in der Analytik. “Diese Form des Blutdopings, die Entnahme und Rückführung von eigenem Blut, kann derzeit analytisch nicht nachgewiesen werden“, teilt Andrea Gotzmann, Vorstandsvorsitzende der Nationalen Antidopingagentur Deutschlands (NADA), radsport -news.com mit. “Der biologische Athletenpass, hier mit seinem hämatologischen Modul, kann mittels individuell festgelegter Grenzwerte verschiedener Parameter Veränderungen sichtbar machen. Diese Veränderungen können auf die Gabe von Erythropoetin (Epo) oder Manipulationen mittels einer Bluttransfusion (homolog, autolog) zurückzuführen sein, aber auch durch viele externe Faktoren beeinflusst werden wie zum Beispiel Aufenthalt in der Höhe“, beschreibt sie die Problemlage.

Das bedeutet: Öffentlich wurde mehr von dem Blutpassprogramm erwartet, als es wissenschaftlich liefern kann. Denn gerade der Blutpass wurde immer wieder als wirkungsvolles Mittel gegen Eigenblutdoping beschrieben. Die Diskrepanz zwischen öffentlicher Erwartung und wissenschaftlicher Basis wird auch aus der Aussage von Rasmus Damsgaard, Antidopingexperte des Ski-Weltverbands FIS, ablesbar: “Das Blutpassprogramm ist ein wissenschaftliches Programm, das auf Physiologie beruht. Niemand hat gesagt, dass es Eigenblutdoping direkt aufspüren kann“, sagt er radsport-news.com. “Aber es ist ein wundervolles Instrument, um weitere ‘Mr. 60%’ zu verhindern“, ergänzt der Däne – und spielt dabei auf seinen Landsmann Bjarne Riis an. Der Toursieger von 1996 ging wegen seines extrem dicken Bluts, Hämatokritwert über 60%, als ‘Mr. 60%’ in die Dopinggeschichte ein. Das Blutpassprogramm habe in den Sportarten, in denen es angewandt wird, wieder für mehr Chancengerechtigkeit gesorgt, betont Damsgaard.

Mario Thevis, Biochemiker und Leiter des Dopingkontrolllabors in Köln, stellt dem Blutpassprogramm ebenfalls ein gutes Zeugnis aus. “Die konventionellen Dopingkontrollen und auch der individuelle Athletenblutpass haben die Möglichkeiten für dopende Sportler und ihr Umfeld so weit eingeschränkt, dass sie zu dem für sie extrem riskanten Verfahren, sich am Wettkampftag Blut zuzuführen, zurückgekommen sind“, meint Thevis.

Mit diesem Verfahren haben Mark Schmidt & Co. dann tatsächlich die Dopingjäger in den Laboren ausgetrickst.

Wie umgingen Mark Schmidt und seine Klienten das Kontrollprogramm?
Nach allem, was bis jetzt bekannt wurde, wurde den dopenden Sportlern während der Trainingsphase Blut entnommen und es ihnen unmittelbar vor dem Wettkampf wieder zugeführt. Kurz nach dem Wettkampf – es handelt sich offenbar um nur wenige Stunden bis Tage – wurde ihnen dann wieder so viel Blut abgenommen, um innerhalb der verdachtsfreien Zonen zu bleiben. Hämatokrit- und Hämoglobinwerte bleiben dann weitgehend stabil, jedenfalls bei Tests vor der Zuführung und nach der Abnahme des Bluts. Auch der Einfluss auf die Retikulozytenproduktion – die Bildung frischer Blutkörperchen sinkt gewöhnlich nach Eigenblutzufuhr – ist damit begrenzt; ein weiterer Testparameter wird so umschifft.

Ohnehin ist der Nachweis von Eigenblutdoping sehr schwierig. “Es hängt davon ab, wieviel Blut abgenommen oder zugeführt wurde und zu welchem Zeitpunkt danach die Kontrollen vorgenommen wurden. Je mehr Blut entnommen oder zugeführt wurde, desto besser kann das über das Profil herausgefunden werden. Bei drei Blutbeuteln funktioniert das Modell gut. Wenn man den Inhalt eines Blutbeutels zuführt oder so viel Blut entnimmt, ist es wahrscheinlich, dass es nicht detektiert wird. Das ist nicht neu“, sagt Damsgaard.

Bereits 2010 und 2011 gab es Studien zu diesen Aspekten. Das Who is Who der Blutdoping-Analytik war daran beteiligt, unter anderem Damsgaard selbst, der Australier Michael Ashenden und der Däne Jakob Morkeberg. Ausgleichen kann man diesen Nachteil mit der Häufigkeit von Tests. Ein Problem dabei ist, dass nicht alle Blutpassanalysten auf alle vorhandenen Werte zugreifen können. Oft sehen sie nur die Werte von den Tests, die von ihrer Organisation in Auftrag gegeben wurden. “Die FIS hat Abkommen mit vielen nationalen Antidopingagenturen über einen Datenaustausch, aber nicht mit allen. In manchen Staaten ist solch ein Datenaustausch gesetzlich untersagt“, weist Damsgaard auf dieses Problem hin. Die FIS umgeht es laut Damsgaard mit mehr Tests - “vor allem bei Athleten, bei denen wir Siege erwarten“. Die festgenommenen Sportler fallen nicht unbedingt in diese Kategorie.

Die relative Erfolglosigkeit der Verhafteten führt zur Frage:

Wie effektiv war das Doping Made by Mark Schmidt?
“Studien zeigen, dass man schon eine ganze Menge Blut zuführen muss, um signifikante Effekte zu haben. Es gibt einige wenige, die zeigen, dass auch geringere Mengen einen Effekt haben, aber da gibt es im Forschungsdesign einige Mängel“, konstatiert FIS-Experte Damsgaard. Er weist auch auf “Mängel“ im Design des Eigenblutdopings selbst hin: “Wenn man Blut lagert, nimmt die Anzahl der aktiven roten Blutzellen um etwa 50% ab. Man führt also ‘‚gutes’ und ‘schlechtes’ Blut zu.“ Wie stark die Wirkung des Dopings war, mag Damsgaard nicht einschätzen. Er wirkt aber skeptisch: “Es ist schwer zu sagen, ob ein Blutbeutel von 280 ml aus halb gutem und halb schlechtem Blut einen Unterschied für einen Elitesportler ausmachen kann.“

Wie kann die Testlücke geschlossen werden, die das Dopingnetzwerk ausgenutzt hat?
Die kurze Antwort lautet: Blutkontrollen unmittelbar vor und nach den Wettkämpfen. “Die Blutkontrollen für das Athletenblutpassprogramm sollten in den Zeitfenstern noch präziser gesetzt werden“, fordert Dopinganalytiker Thevis. “In jedem Fall ist das Wissen um die jetzt aufgedeckte zeitliche Vorgehensweise bei den Bluttransfusionen mit in die Betrachtung einzubeziehen“, meint auch NADA-Vorstand Gotzmann. “Bisher haben am Wettkampftag unmittelbar vor den Rennen keine Blutabnahmen stattgefunden, um die Vorbereitungen der Sportler nicht zu beeinflussen. Diese kurze zeitliche Lücke im Kontrollsystem bedarf einer Überprüfung.“

Noch mehr Kontrollen, noch näher dran am Wettkampf – viele werden jetzt aufschreien. Aber der Fall Mark S. hat zumindest auf eine große Kontrolllücke aufmerksam gemacht. Geschlossen werden kann sie – selbst wenn dichter kontrolliert wird – wohl nur durch das Zusammenspiel von Dopinganalytik und weiteren polizeilichen Ermittlungen, also Überwachung von Unterkünften und Wettkampfstätten, wie bei “Operation Aderlass“ geschehen.

Außerdem muss das Blutpassprogramm selbst immer weiter verfeinert werden. “Es gibt permanent neue Studien und neue Ansätze, um die Zeitfenster des Nachweises zu optimieren“, macht Thevis Hoffnung.

Mehr Informationen zu diesem Thema

19.11.2022Sportbetrug: Denifl nach Berufung freigesprochen

(rsn) - Im Zuge der "Operation Aderlass", einer großen Dopingrazzia rund um den Erfurter Sportarzt Mark Schmidt, wurde der frühere Radprofi Stefan Denifl im März 2019 von der österreichischen Poli

19.11.2022Die Chronik der Operation Aderlass

(rsn) - Vor rund zwei Jahren wurden bei einer koordinierten Aktion der österreichischen und deutschen Ermittlungsbehörden bei den Nordischen Skiweltmeisterschaften in Seefeld im Rahmen der "Operatio

26.06.2022Erfurter Dopingarzt Schmidt vorzeitig aus Haft entlassen

(rsn) - Der wegen Blutdopings und gefährlicher Körperverletzung zu einer Haftstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilte Mark Schmidt ist wieder auf freiem Fuß. Das bestätigte die zuständ

03.11.2021Ex-Profi Lang wegen Aderlass-Verstrickung für 18 Monate gesperrt

(rsn) – Pirmin Lang ist zwar ohnehin nicht mehr als Radprofi unterwegs, nun ist der Schweizer von der Disziplinarkammer für Dopingfälle von Swiss Olympic aber trotzdem gesperrt worden. Unter Anwen

22.10.2021Preidler auch im Berufungsprozess schuldig gesprochen

(rsn) - Georg Preidler ist in einem zweiten Prozess vom Innsbrucker Landesgericht wegen schweren gewerbsmäßigen Sportbetrugs erneut zu zwölf Monaten sogenannter bedingter Haft verurteilt worden und

23.09.2021NADA sperrt Björn Thurau für neuneinhalb Jahre

(rsn) - Die Nationale Anti Doping Agentur NADA hat Björn Thurau wegen zahlreicher Dopingvergehen für neun Jahre und sechs Monate gesperrt. Wie die NADA auf ihrer Homepage mitteilte, beginne die Sper

25.01.2021Chattete Thurau mit Lang über Lieferung von Dopingmitteln?

(rsn) - Nach wie vor ist nicht bekannt, um wen es sich bei den beiden deutschen Radsportlern handelt, die ebenfalls mit dem zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilten Dopingarzt Mark Schmidt in Ko

19.01.2021Schmidt will gegen Landgerichts-Urteil Revision einlegen

(rsn) - Der Erfurter Doping-Arzt Mark Schmidt will vor dem Bundesgerichtshof Revision einlegen und gegen das Urteil des Landgerichts München vorgehen, das gegen ihn gefällt wurde. Schmidt war am Fre

15.01.2021Erfurter Dopingarzt Schmidt zu fast fünf Jahren Haft verurteilt

(rsn) - Im Prozess um die “Operation Aderlass“ ist der Erfurter Sportmediziner Mark Schmidt zu einer Haftstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt worden. Das Landgericht München II befa

12.01.2021Richter verurteilt Denifl zu zwei Jahren Gefängnis

(rsn) - Im Rahmen der "Operation Aderlass" wurde die erste Freiheitsstrafe ausgesprochen. Das Gericht in Innsbruck verurteilte den ehemaligen österreichischen Radprofi Stefan Denifl zu zwei Jahren Ge

01.12.2020Bahrain-Team-Manager Erzen bestreitet Kontakte zu Mark Schmidt

(rsn) - Milan Erzen, Team-Manager bei Bahrain - McLaren, hat über seinen Anwalt Verbindungen zum Sportmediziner Mark Schmidt dementieren lassen. Gegen den Erfurter läuft im Rahmen der “Operation A

13.11.2020Petacchi bestreitet gemeinsames Blutdoping mit Hondo

(rsn) - Alessandro Petacchi hat bestritten, dass sein früherer Teamkollege Danilo Hondo in seiner Aussage im Prozess um die “Operation Aderlass“ vor dem Landgericht München gemeinsames Blutdopin

Weitere Radsportnachrichten

05.05.2024Eine erste Chance für die Sprinter

(rsn / ProCycling) – Nachdem sie sich zwei Tage lang "aufwärmen" konnten, ist es nun für die schnellen Männer des Pelotons Zeit, ihren Job zu verrichten. Bevor sie jedoch ihren ultimativen Zielsp

05.05.2024Radsport live im TV und im Ticker: Die Rennen des Tages

(rsn) – Welche Radrennen finden heute statt? Wo und wann kann man sie live im Fernsehen oder Stream verfolgen? Und wo geht´s zum Live-Ticker? In unserer Tagesvorschau informieren wir jeden Morgen

05.05.2024Pogacar auf den Spuren Pantanis

(rsn) - 1999 hatte Marco Pantani am Fuße des Anstiegs zur Kapelle nach Oropa einen Defekt. Die Kette fiel ihm herunter. Es dauerte, bis ein Materialwagen bei ihm war. Fahrer um Fahrer zog derweil an

05.05.2024Nur ein Defekt bremste Martinez hinauf nach Oropa

(rsn) – Gut fünf Kilometer vor dem Ziel der 2. Etappe am Santuario di Oropa gab es Grund zur Beunruhigung beim Team Bora – hansgrohe. Am Ende des Tages aber sah man nichts als strahlende Gesichte

05.05.2024Martinez: “Das Resultat ist großartig für unsere Moral“

(rsn) – Mit einem Tag “Verspätung“ hat Tadej Pogacar am Sonntag bei der ersten Bergankunft den erwarteten Etappensieg am Auftaktwochenende des 107. Giro d’Italia eingefahren. Am Santuario di

05.05.2024Highlight-Video der 2. Etappe des Giro d´Italia

(rsn) – Zum Auftakt des 107. Giro d’Italia (2.UWT) musste sich Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) noch mit Rang drei begnügen. An der ersten Bergankunft jedoch gab es für den Top-Favoriten kein H

05.05.2024Pogacar stürmt in Oropa trotz Sturz ins Rosa Trikot

(rsn) – Marco Pantani triumphierte 1999 an der Wallfahrtskirche Santuario di Oropa dank einer historischen Aufholjagd, nachdem er am Fuße des Anstiegs durch einen Defekt gestoppt worden war. 25 Jah

05.05.2024De Lie in der Bretagne auch durch zwei Plattfüße nicht zu stoppen

(rsn) – Nach Platz zwei im Vorjahr hat sich Arnaud De Lie (Lotto – Dstny) die 41. Ausgabe von Tro Bro Léon (1.Pro) gesichert. Der 22-jährige Belgier entschied in der Bretagne das über 203,6 Kil

05.05.2024Vollering nutzt Rückenwind-Passage zum Vuelta-Triumph

(rsn) – Mit einem weiteren überragenden Auftritt hat Demi Vollering (SD Worx – Protime) die 10. Vuelta Femenina (2.UWT) souverän für sich entschieden. Die 27-jährige Niederländerin schüttelt

05.05.2024Liste der ausgeschiedenen Fahrer / 2. Etappe

(rsn) - 176 Profis aus 22 Teams sind am 4. Mai zum 107. Giro d’Italia (2.UWT) angetreten, darunter auch zwölf Deutsche, vier Österreicher, zwei Schweizer und ein Luxemburger. Hier listen wir a

05.05.2024Pogacar: ”Die Post wird abgehen”

(rsn) – Der Auftakt zum 107. Giro d’Italia ist atypisch. Einen Tag nach der schweren 1. Etappe, auf der bereits einige Favoriten Federn gelassen haben, steht bereits die erste Bergankunft auf dem

05.05.2024Narvaez sorgt für die nächsten rosa Träume in Ecuador

(rsn) – Fünf Jahre ist es her, dass Richard Carapaz das Radsportland Ecuador mit seinem sensationellen Gesamtsieg beim Giro d´Italia in Rosa gehüllt hat. Nun feiern die Nachbarn der Kolumbianer i

RADRENNEN HEUTE

    WorldTour

  • Giro d´Italia (2.UWT, ITA)