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01.04.2020 | (rsn) - Welches war das spannendste Rennen dieses Jahrtausends? Diese Frage stellten sich die Redakteure von radsport-news.com. Christoph Adamietz fällt dazu eine Etappe der Presidential Cycling Tour of Turkey von 2012 ein.
An die Türkei-Rundfahrt denkt wohl kaum jemand zurück, wenn es um die spannendsten Rennen der vergangenen 20 Jahre geht: zu wenig Tradition, zu wenige markante Streckenpunkte und zumeist ein Starterfeld, das weit entfernt davon ist, sich mit denen der großen Rundfahrt messen zu können.
Die zur Kategorie 2.HC zählende Ausgabe von 2012 blieb allerdings in meinem Gedächtnis - wenn auch weniger wegen der Startliste, die zwar gleich neun WorldTour-Teams und nicht weniger als 14 Zweitdivisionäre aufwies. Die meisten Teams der ersten Division schickten allerdings ihre zweite oder dritte Reihe in die Türkei. Lediglich die Sprinterriege konnte sich sehen lassen: André Greipel (Lotto Belisol), Marcel Kittel (Argos – Shimano), Alessandro Petacchi (Lampre – ISD), Matthew Goss, Robbie McEwen (beide Orica – GreenEdge), Matteo Trentin (Omega Pharma – Quick-Step) und Theo Bos (Rabobank) lauteten die Namen der schnellen Männer am Start der am 22. April beginnenden 48. Presidential Cycling Tour of Turkey.
In Erinnerung geblieben ist mir die Rundfahrt nicht wegen den Etappensiegen von Bos, Greipel, Mark Renshaw oder Sacha Modolo. Auch nicht unbedingt deshalb, weil der für das kleine türkische Team Konya Tokur Serkaspor fahrende bulgarische Überraschungs-Gesamtsieger Ivailo Gabrobsky später wegen eines positiven Epo-Tests disqualifiziert und der Gesamtsieg dem Kasachen Alexandr Dyachenko (Astana) zugesprochen wurde.
Es war vor allem die 7. Etappe, die denkwürdigen Charakter hatte. Der Abschnitt führte über nur 124 Kilometer von Kusadasi nach Izmir und sollte eine Angelegenheit für die Sprinter werden. Besonders Kittel hatte sich für den vorletzten Tag der Rundfahrt viel vorgenommen, war er doch zum Auftakt in einen Massensturz verwickelt und auch bei den folgenden Flachetappen hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Am 28. April 2012 sollte es mit dem sechsten Saisonsieg klappen, so die Hoffnung.
Alles kam anders als geplant
Die Etappe nahm zunächst auch den erwarteten Verlauf. Eine siebenköpfige Ausreißergruppe um den Belgier Iljo Keisse (Omega Pharma – Quick-Step), den Russen Mikhail Ignatiev (Katusha) und den Kasachen Andrey Zeits (Astana) hatte sich früh im Rennen nach vorne verabschiedet und sich einen komfortablen Vorsprung herausgefahren, der die Sprinterteams aber nicht sonderlich zu beunruhigen schien. Allerdings kam dann alles ganz anders als geplant. Sieben Kilometer vor dem Ziel verteidigten die Ausreißer noch immer eine knappe Minute an Vorsprung. Von nun an wurde es spannend, auch wenn noch immer viel für eine Punktlandung und einen Massensprint sprach.
Im Feld waren Kittels Helfer und Rabobank darum bemüht, die Ausreißer schnellstmöglich einzufangen und das schien zu gelingen. Innerhalb eines Kilometers hatte man den Ausreißern weitere zehn Sekunden von deren Vorsprung abgenommen. Hochgerechnet sollte es also für die Sprinterteams reichen.
Doch ein Ausreißer wollte sich nicht partout nicht in sein Schicksal fügen. Bahnspezialist Keisse attackierte knapp sechs Kilometer vor dem Ziel seine Begleiter, die sich nur anschauten und ihn ziehen ließen. Der Belgier schlug in der Folgezeit solch derart hohes Tempo an, dass es den Sprinterteams – bei denen auch noch Uneinigkeit herrschte - kaum mehr gelang, Boden auf den Quick-Step-Profi gut zu machen.
Die letzten beiden Kilometer nahm Keisse mit noch komfortablen 30 Sekunden Vorsprung in Angriff. Sollte das nicht reichen für den ersten UCI-Sieg des damals 29-Jährigen? Doch man ahnt es schon: Es wurde noch dramatisch knapp.
Sturz am Teufelslappen
Kurz nachdem er unter dem Teufelslappen durchgejagt war, rutschte Keisse in einer scharfen Rechtskurve nämlich das Hinterrad weg und er landete auf dem Asphalt. Noch war nichts verloren, schließlich war der Vorsprung relativ komfortabel und die Distanz zum Ziel betrug nur noch rund 900 Meter. Doch zu allem Unglück war auch noch die Kette heruntergesprungen. Während Keisse sich bemühte, sie wieder aufzulegen, schwenkten die Kameras auf das jagende Feld um. Als die Verfolger wenig später in dieselbe Kurve einbogen, sah man dort einen Fahrer an seiner Kette herumwerkeln. War das immer noch Keisse, der damit alle Chancen auf den Sieg eingebüßt hätte?
Doch kurz darauf sah man den Ausreißer noch immer als Solo-Spitzenreiter. Es musste wohl ein ehemaliger Fluchtgefährte gewesen sein, dem das gleiche Schicksal wie Keisse widerfahren war. An der Trikotfarbe ließ sich beim Zoom erahnen, dass Zeits der Pechvogel war.
Auf den letzten 500 Metern spitzte sich die Situation wie in einem Thriller zu. Keisses ehemalige Fluchtgefährten wurden vom heranrauschenden Feld gestellt, die Sprinterteams lancierten auf der langen Zielgeraden ihre Kapitäne. Auf der rechten Straßenseite eröffnete Bos mit Kittel am Hinterrad den Sprint und kam immer näher an den auf der linken Straßenseite verzweifelt kämpfenden Keisse heran. 100 Meter vor dem Ziel drehte der sich um und sah die Verfolger in seinem Nacken. Keisse mobilisierte seine letzten Reserven, ging zwei Mal in Sprintermanier aus dem Sattel, um sich dann aber gleich wieder hinzusetzen. Der Akku war einfach leer. Ein paar Meter zu früh?
Doch es sollte reichen. Keisse rettete sich rund zwei Meter vor Kittel, der Bos noch übersprintet hatte, ins Ziel und streckte erschöpft und voller Freude zugleich die Hände gen Himmel. “Die Bilder des Zieleinlaufs sehen cool aus. Man könnte meinen, ich hätte einen großen Massensprint gewonnen“, scherzte er nach einem Rennen, das ihm wohl sein Leben lang in Erinnerung bleiben wird.
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